Arno Bammé
Thusnelda Kühl, die Dichterin der Marschen
Präzision, Akribie,
Wahrhaftigkeit der Recherche: der Einfluss des Vaters,
künstlerische Bearbeitung des Gesehenen und Erlebten, seine
belletristische Umwandlung in eine literarische Ausdrucksform: der
Einfluss der Mutter - das findet sich bei Thusnelda Kühl wieder.
Wie ihr Bruder Carsten Wilhelm übt auch sie nicht nur einen Beruf
aus. Sie ist Lehrerin, unter anderem in Oldenswort, und
Schriftstellerin. Um sich ganz dem Schreiben widmen zu können, reicht
sie 1903 ihr Abschiedsgesuch ein. In der Schulchronik von Oldenswort
ist unter dem 15. April 1903 nachzulesen: Um sich ganz ihren
schriftstellerischen Arbeiten widmen zu können, trat Fräulein Kühl zum
1. April dieses Jahres aus dem Schuldienst ... Mit großer Liebe hingen
die Kinder an Fräulein Kühl, und ich bin überzeugt, dass ihre
erziehliche Wirksamkeit für den Geist unserer Schule von großer
Bedeutung gewesen ist.
Vieles von dem, was ihr zu
Ohren kam, erst als kleines Mädchen, dann als Lehrerin, schließlich als
Schriftstellerin, findet sich wieder in ihren Romanen und Novellen: der
Überlebenskampf der Marschenbauern um den Erhalt ihrer Höfe, die
Alltagssorgen der kleinen Leute, der "lüttjen Lüüd"; das Aufbegehren
der Frauen, die sich aus überkommenen gesellschaftlichen Zwängen
befreien wollen; der schwindende Trost, den Kirche und Religion in all
dem Elend noch zu gewähren vermögen. Sie habe nie daran denken
können,etwas anderes zu erzählen, als was im Friesenlande sich
zugetragen hat, berichtet sie über sich selbst: Im Friesenlande
lebten oder leben die Gestalten meiner Romane, fast immer bin ich der
Wirklichkeit nur bescheiden nachgewandelt.
Berühmt, weit über die Grenzen
Schleswig-Holsteins hinaus, wird sie durch die Eiderstedt-Trilogie:
"Der Lehnsmann von Brösum" (1904), "Um Ellwurth" (1904) und "Die Leute
von Effkebüll" (1905). "Effkebüll" ist Oldenswort. Den Namen selbst hat
sie einem Dorf in der Nähe von Fahretoft entliehen, dem Geburtrsort
ihres Mannes. In dem Roman beschreibt sie Ereignisse, die sich in
Oldenswort um die Jahrhundertwende zugetragen haben. Eiderstedter
werden die dort geschilderten Örtlichkeiten unschwer wiedererkennen:
das Armenhaus "südaus vom Dorf", "das Haus am Knüll", das Gebäude der
Guttempler (Alkoholismus war damals ein großes Problem in der
Landschaft; aus der Abkürzung "I.O.G.T." der Internationalen
Organisation der Guttempler machten die Oldensworter damals ein
ironisierendes "Jüm ole Grogdrinkers"). Aber auch Örtlichkeiten der
näheren Umgebung lassen sich heute noch wiederfinden, etwa das
Rosenburger Deep oder Dragseths Gasthof von 1586 in Husum.
Wie in allen Büchern
Thusnelda Kühls, in denen sie das Handlungsgeschehen auf die Halbinsel
Eiderstedt verlegt, bilden auch in "Ellwurth" und im "Lehnsmann" die
sozialen und ökonomischen Umbrüche in der Landschaft die
Rahmenbedingungen des Romanablaufs: der Übergang vom Ackerbau zur
Weidewirtschaft, die Industrialisierung des Landes, das Aufbegehren der
Frauen aus überkommenen Rollenmustern. Die Eiderstedt-Romane Thusnelda
Kühls lassen sich durchaus als gelungene Illustration der
Gesellschaftstheorie des gleichfalls in Oldenswort aufgewachsenen
Soziologen Ferdinand Tönnies (1855-1936) lesen, wie er sie in seinem
Hauptwerk "Gemeinschaft und Gesellschaft" (1877) formuliert hat. Nach
Tönnies entwickelt sich das menschliche Zusammenleben im historischen
Ablauf von gemeinschaftlichen, von nachbarschaftlichen zu gesellschaftlichen,
zu anonymen Verkehrsformen. Beide, sowohl Thusnelda Kühl als auch
Ferdinand Tönnies, sind auf dem Lande groß geworden und haben dort die
sozialhistorischen Umbrüche in eigener Anschauung unmittelbar
miterlebt. Beide verfügten also über einen gemeinsamen
Erfahrungshintergrund, der ihre Kindheit prägte. Beide sind später in
die Welt hinausgegangen, unter anderem nach England, in das Mutterland
der Industrialisierung und der Frauenemanzipation. Beide haben die
Erfahrungen, die sie dabei machten, in ihren Schriften verarbeitet, die
eine in, zumindest für damalige Zeiten, gut lesbarer Form als Romane
und Erzählungen, der andere in abstrakt-theoretischen, auch für
damalige Zeiten nur schwer lesbaren akademischen Abhandlungen.
Aus "Carsten Kühl -
Zwischen Realismus und Naturalismus"
Katalog zur Ausstellung
im NordseeMuseum Husum 2008/2009
Husum Druck- und Verlagsgesellschaft
ISBN 978-3-89876-428-5
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